Santiago Sierra
Deutschland 1990-2012

31. Mai – 20. Juli 2013

Der Kunstverein Arnsberg zeigt alle in Deutschland entstandenen Projekte des spanischen Künstlers Santiago Sierra. Es ist die erste thematische Ausstellung dieser Art. Sierra, der in Hamburg Anfang der 90er Jahre studierte, hat zwischen 1990 und 2012 deutschlandweit über 20 Projekte realisiert.

Mit Skulpturen, Videos, Performances und Fotografien schafft er es immer wieder Diskussionen anzuregen. Seine Entscheidungen wirken oft als Zündstoff für öffentliche Debatten, die soziale Themen in eine weitere Dimension übertragen. Für Sierra sind aber nicht die Provokationen sondern ihre Konsequenzen von Bedeutung. Seine Antwort auf politische und wirtschaftliche Gewalt sind Performances und Aktionen, die sie drastisch zur Anschauung bringen.



Santiago Sierra (*1966) lebt in Madrid.

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Das Künstlergespräch mit Santiago Sierra findet am Dienstag, 16.07.2013, um 19.30 Uhr im Kunstverein Arnsberg statt.


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Abstraktion aus Notwehr

Santiago Sierras solidarische Grausamkeit

Lange war Abstraktion in der Kunst vor allem eine Geschichte des ästhetischen Essentialismus: des Glaubens, eine bestimmte Systematik der Formen müsse in der Lage sein, das Wesen der Dinge und ihrer Erscheinungen so grundsätzlich zu erfassen und bildnerisch anzuordnen, dass sich etwas Allgemeines, etwas Wahres, etwas Letztes darüber würde sagen lassen. Etwas, das sich aus dem Hier und Jetzt einer konkreten Lebenswelt erhebt.

Diesen Glauben hat Richard Rorty mit Blick auf die Verwendung sprachlicher Zeichen als die Suche des (v.a. westlichen) Denkens nach „abschließenden Vokabularen“ bezeichnet.[1] Der amerikanische Pragmatist verstand darunter die Sehnsucht nach zeitlosen Formeln der Erkenntnis, die Hoffnung auf letzte Gewissheit. Santiago Sierra und Richard Rorty ist gemeinsam, dass sie diese Hoffnung aufgaben, dieses Kontrollbedürfnis, die Welt als einen unveränderlich überschaubaren Ort begreifen zu müssen. Beide haben sich für eine andere, in ihren Augen fundamentalere Hoffnung entschieden, dass nämlich die Welt ein gerechterer Ort werden könnte, als sie es derzeit ist, und dass es diejenigen Verhältnisse zu ändern gälte, die der Grund dafür sind. Dass die Philosophie dazu wenig beitragen würde,  war für Rorty ausgemacht. Sierra traut seinerseits der Kunst nicht mehr zu. Trotzdem haben beide innerhalb ihrer jeweiligen Disziplin die Frage danach, was wir erkennen können und wie sich die Zeichen dieser Erkenntnis organisieren lassen, radikal politisiert und das Interesse an Wahrheit eingetauscht gegen ein Interesse an Selbstbestimmung und Solidarität.

Kenner des Werkes von Santiago Sierra mag überraschen, eine solidarische Passion damit verknüpft zu sehen, gilt es doch Manchen eher als krawallig. Ich glaube, gerade der Begriff der Abstraktion kann erhellen, welches Ziel Sierras Kunst verfolgt, und Richard Rortys philosophischer und politischer Anti-Essentialismus scheint mir dabei geeignet, die äußerst klare und scharfe ethische Position Sierras zu kennzeichnen und letztlich das Solidaritätsprinzip seines Werkes zu beschreiben. Das wird das Interesse dieses Textes sein.

 

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Für den Fortgang ästhetischer Abstraktion markierte die Minimal Art eine Wende. In Abgrenzung zur starken Betonung subjektiver Gefühlswelten im Abstrakten Expressionismus fanden die Minimalisten in standardisierten Formen und Materialien aus der industriellen Massenproduktion ein rationales Vokabular, hinter dem die gestalterische Subjektivität der Autoren verschwinden konnte. Ein Vorgang, für den Sierra eine Art Hass-Liebe zu empfinden scheint. Denn einerseits erschloss sich der Kunst dabei ein formaler Direktzugang zu den anonymen Prinzipien einer standardisierten Arbeits- und Warenwelt, denen Sierras Interesse gilt. Andererseits lehnte der Minimalismus jegliche Verantwortung für die inhaltliche und zumal politische Bedeutung seiner Anordnungen ab, blendete ihren gesellschaftlichen Kontext kategorisch aus und kam zu einem essentialistischen Werkbegriff, der etwa in einem Kubus allein dessen formale, ja mathematische Logik erkennen wollte, einen geometrischen Raumkörper, der nichts ist als nur er selbst.    

 

Genau diese Haltung des Rekurses auf die intrinsischen Eigenschaften einer Sache hatte Rorty abgelehnt als die Zwangsvorstellung, mit den geeigneten Vernunftmitteln würde sich darüber etwas Absolutes sagen lassen, etwas, das mehr wäre als nur eine historische und kontingente Beschreibung durch ein Subjekt. Ein solches Raunen der Ewigkeit durchzieht den Minimalismus ebenso wie Teile der Analytischen Philosophie, deren formale Logik Rorty zunehmend als weltfremd empfand. Er schlug daher vor, wir sollten unsere Vernunft nicht auf die Suche nach ewigen Aussagen schicken, sondern sie auf die Frage verwenden, wie wir menschliche Grausamkeit begrenzen könnten und wie sich schließlich „das aufklärerische Projekt der Entmystifizierung des menschlichen Lebens“ vervollständigen ließe, „die Menschheit aus den Fesseln ‚ontotheologischer‘ Metaphern vergangener Traditionen zu befreien und so die Machtbeziehungen von Kontrolle und Unterwerfung, die diesen Metaphern innewohnen, zu ersetzen durch die Beschreibung von Beziehungen, die auf Toleranz und Freiheit aufbauen.“[2]

 

Vergleichbar sah Sierra in der selbstbezüglichen Ästhetik der Minimal Art „eine ungeheuren Anmaßung und Selbstzufriedenheit der westlichen Kultur“ und setzte sich von ihr ab, indem er die Grausamkeiten hervorhob, die sich hinter ihrer Rationalität verbargen. Im formalen Vokabular des Minimalismus, dessen objektivistische Rhetorik Individualität nivellierte, fand er das geeignete Instrumentarium, um die entmenschlichten Abstraktionen des Kapitalismus dingfest zu machen. Dabei erweiterte er zugleich substanziell den über dieses Vokabular erreichbaren Gegenstandsbereich: Seine Skulpturen und Aktionen rekurrieren nicht nur auf formale und materielle Prinzipien der Industrieproduktion, sondern von Beginn an auch auf die logistischen Abläufe des Güterverkehrs, auf die repressive Organisation abhängiger Beschäftigungsverhältnisse, auf soziale Normierung und Ausgrenzung mittels legislativer, judikativer und exekutiver Gewalt, und vor allem auf die Integration amoralischer Interessen durch deren wirtschaftliche, politische und technologische Standardisierung und Legitimation.

 

Sierra nutzt die formalen Abstraktionsleistungen seiner am Minimalismus geschulten Praxis nicht, um sich über die historische Kontingenz und die Gefühle zerspaltener und unterworfener Subjekte zu erheben, sondern um deren strukturelle Unterdrückung unmissverständlich zu machen. „Nicht leere Gefäße zu entdecken ist das Interessante, sondern sie zu verwenden (...), und damit befinde ich mich in derselben Situation wie viele andere, die den Minimalismus als ein Arsenal von Instrumenten sehen, deren sie sich bedienen können, aber seine inhaltliche Leere nicht ertragen.“[3] Anstatt minimalistische Ideologien abzuwandeln oder zu kritisieren, reproduziert Sierra sie mit dem einzigen Unterschied, dass er ihre „Leere“ mit sozialer Realität füllt: mit Materialien, die klar innerhalb einer gesellschaftlichen Problematik zu verorten waren, oder mit den Körpern und Leben von Menschen, deren physische und mentale Stigmatisierung, Segregation, Unfreiheit und Ausbeutung nicht ihm, sondern einer systemischen Logik anzulasten ist, die er ebenso unbeteiligt wiedergibt, wie es zuvor die Minimalisten taten. Nur mit dem Unterschied, dass er anders als diese seinen formalen Bezugsrahmen vor allem auf politische und ökonomische Systeme ausrichtet, deren Grausamkeit – und manchmal auch den Widerstand dagegen – sein Werk appropriiert.

 

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Einige Beispiele aus dem Werk Santiago Sierras:

 

PRISM. Workshop, Hamburg, Deutschland, 1990


Am Beginn seines Frühwerkes klärte Sierra einige grundlegende Differenzen mit der minimalistischen Doktrin. Mit PRISM, ebenso wie mit CUBIC CONTAINER aus dem gleichen Jahr, baute er Kuben, die sich typologisch auf Donald Judd zurückführen lassen. Während es ein Sakrileg wäre, eines von Judds „Spezifischen Objekten“ einmal liegend und einmal stehend zu präsentieren, zeigen Sierras Fotografien von PRISM gezielt diese beiden unterschiedliche Zustände ein und desselben Objekts und schließen damit reine Selbstbezüglichkeit kategorisch aus. Die Entpersönlichung von Judds Werken trieb dieser so weit, dass er Fingerabdrücke darauf als ihre Zerstörung empfand. Sierra hingegen stellt seinen Raumkörper aus einer gebrauchten LKW-Plane her, in deren schmutziger Oberfläche sich die zurückgelegten Wegstrecken und Arbeitsprozesse im Warentransfer dokumentierten.

 

WALKS. Hamburg, Deutschland, 1990

 

Sierras erste fotografische Serie hält in 36 Bildern 18 Situationen fest, die der damalige Student an der Hamburger Akademie bei Spaziergängen im Stadtraum vorfand: Stapel von Paletten, Steinplatten und andern Baumaterialien, deren Anordnung die strukturelle Systematik von Carl Andre, Sol LeWitt, Donald Judd und anderen Vertretern der Minimal Art wachruft. Dem rationalen Gleichmaß von deren Werken folgen Sierras Fundstücke freilich nicht. Sie zeigen gerade umgekehrt, wie sehr der minimalistische Formalismus seine Bezüge zur industriellen Produktion idealisierte und stilisierte, und folglich weder in der Lage war noch ein Interesse daran hatte, in der geometrischen Standardisierung industrieller Maße eine vor allem ökonomische Rationalität effizienter Fertigungs-, Transport, und Konstruktionsprozesse zu erkennen, in welche sich die ausführenden Arbeiter einzufügen hatten. Jedes der von Sierra vorgefundenen Motive dokumentiert eine Abweichung von dieser Rationalität als Interferenz von Produktivitätsanforderungen einerseits und einer subtil widerständigen Subjektivität andererseits, die sich nur so weit ins formale Diktat fügt wie eben nötig. Wie schon PRISM bietet auch WALKS programmatisch je zwei verschiedene Blickperspektiven auf ein und den selben Gegenstand und widerspricht so auf der Wahrnehmungs- ebenso wie auf der Darstellungsebene dem minimalistischen Essentialismus, der sich von der individuellen Blickrichtung auf das Gegebene unabhängig wähnte.

250 CM LINE TATTOOED ON 6 PAID PEOPLE. Espacio Aglutinador, Havanna, Kuba, Dezember 1999; HIRING AND ARRANGEMENT OF 30 WORKERS IN RELATION TO THEIR SKIN COLOR. Project Space, Kunsthalle Wien, Österreich, September 2002


Santiago Sierra zahlte sechs arbeitslosen jungen Männern je 30 Dollar, damit sie sich eine Linie auf den Rücken tätowieren lassen. Um eine Gesamtlänge von 250 cm zu erreichen, stellte Sierra sechs Rücken zusammen und ließ eine horizontale Tätowierung über sie legen. Den Körper eines Menschen für 30 Dollar zu kaufen für die Ausführung eines Kunstwerkes, das ihn vermutlich nur bedingt interessiert, dessen Spur er aber sein Leben lang nicht mehr loswerden wird, erscheint pervers. Ebenso wie eine zweite Arbeit aus dem Jahr 2002, HIRING AND ARRANGEMENT OF 30 WORKERS IN RELATION TO THEIR SKIN COLOR. Sierra ließ von der Wiener Kunsthalle 30 Arbeiterinnen und Arbeiter mit helleren und dunkleren Hautfarben anheuern, sortierte sie gemäß der Tönung ihrer Haut und platzierte sie in Unterwäsche mit dem Gesicht zur Wand. Den beiden Werken von 1999 und 2002 ist gemeinsam, das sie menschliche Körper jeweils abstrakten formalen Prinzipien unterwerfen, die ihre Individualität zum Preis einer unangemessen scheinenden Entlohnung negieren – Prinzipien, die sich in minimalistischen und konzeptuellen Kunstpraxen ebenso finden wie in alltäglichen Praxen sozialer Normierung, Segregation und Stigmatisierung. Erstere macht sich Sierra zu eigen, um letztere komprimiert zu reproduzieren. Seine Vorgehensweise ist so gesehen überaus gewöhnlich und geradezu nicht mehr als eine Anwendung vorgefundener sozialer und ästhetischer Muster, deren Kombination jedoch schwer erträglich ist.

 

Wenn Richard Rorty hoffte, die Menschen „von den Fesseln ‚ontotheologischer‘ Metaphern vergangener Traditionen zu befreien und so die Machtbeziehungen von Kontrolle und Unterwerfung, die diesen Metaphern innewohnen“, zu überwinden, so zeigen sich die beiden Arbeiten Sierras als geeigneter Beitrag, dieses aufklärerische Projekt voranzubringen. Denn sein Umgang mit dem ästhetischen Vokabular von Linie und Farbskala macht eine „ontotheologische“ Rezeption unerträglich. Eine angenommene Gerade von 250 cm Länge, so zeigt er, ist in ihrer normativen Begrenzung nicht lediglich eine mathematische Größe oder eine künstlerische „Idee“, sondern hat in einer von Menschen bewohnten Welt Bedingungen und Konsequenzen, die schmerzhaft sein können und es auch sind. Gleichermaßen ist die Aufteilung des Wahrnehmungsraums in Skalen der Farbabstufung weit mehr als eine rein formale Systematik, wenn solche Skalen eine Entsprechung in sozialen Hierarchien finden, die Menschen nach rassischen und nationalen Herkunftskriterien sortieren. 

 

WORKERS WHO CANNOT BE PAID, REMUNERATED TO REMAIN INSIDE CARDBOARD BOXES. Kunst Werke, Berlin, Deutschland, September 2000


Sechs aus Pappkarton improvisierte, hochformatige Kuben in Reihe gestellt. Darin auf einem Stuhl sitzend, und von außen nicht sichtbar, sechs im Werktitel als Arbeiter klassifizierte Menschen, die nicht bezahlt werden können und doch dafür entlohnt werden, dass sie sechs Wochen lang täglich sechs Stunden im Inneren der Gehäuse still verbleiben. Bezahlt werden konnten die tschetschenischen Einwanderer deshalb nicht, weil ihnen die deutsche Gesetzgebung verbot, als Asylbewerber Lohn entgegenzunehmen, den sie also informell für ihre gegebene Zeit erhielten. Zu beachten ist, dass Sierra die Personen im Werktitel nicht als Asylbewerber bezeichnet, sondern als Arbeiter. Sierra stellt also keineswegs ihren Wunsch oder ihre Fähigkeit zu arbeiten in Frage, sondern es ist ihr juristischer Status, der sie daran hindert und den Sierra hintergeht, indem er die im Rahmen seiner Aktion erbrachte Leistung unsichtbar entlohnt. Hier wie ihn ähnlichen Aktionen unterstellte die Presse gerne, Sierra würde die Notlage der Menschen ausnutzen, die er ausstellte, und dies sei grausam.

 

Beurteil man das Geschehen aber sachlich, muss man festhalten, dass Sierra einen objektiven Zustand wiedergibt. Die engagierten Personen befinden sich – in ihrem Leben wie in Sierras Werk – in einer normierten Situation, die ihre Körper und ihren Handlungsspielraum eng umschließt und in der ihnen nichts weiter bleibt, als auszuharren. Die Isolation, in der sie sitzen, entspricht ihrem sozialen Status. Dazu gehört auch, dass das Kunstpublikum sich in aller Regel nicht ernsthaft für sie interessiert – und wenn dann wiederum nur „abstrakt“, als sozialkritisches Thema. Vermutlich waren nur wenige von denen, die die Aktion sahen, zuvor einem Asylbewerber physisch und ggf. emotional so nah wie in dem Moment, als sie oder er in der Ausstellung an einem der Kartons lauschte, ob auch wirklich jemand darin saß, und sich dann vielleicht ergriffen oder auch empört darüber zeigte, dass es so war. Wenn Sierra die sechs Arbeiter in einer Reihung von sechs Kuben für sein Publikum unsichtbar macht und im Raum abkapselt, ist seine Anordnung exakt realistisch.           


PERSON SAYING A PHRASE. New Street, Birmingham, Großbritannien, Februar 2002


Die Menschen, die an Santiago Sierras Aktionen teilnehmen, sind niemals Statisten, sondern gehören ausnahmslos der Personengruppe an, die das jeweilige Werk thematisiert: Arbeiter, Arbeitslose, Prostituierte, Kriegsveteranen, Roma, Huicholes, Weiße und Schwarze, Frauen und Männer. Zahlreiche Werke nennen im Titel oder im Untertitel, dass sie für die Teilnahme an seinen Projekten bezahlt wurden, und oftmals auch wie viel. (Sierras Website www.santiago-sierra.com ist übrigens ein vollständiges Werkverzeichnis und ein zentrales Dokumentationsmedium seiner künstlerischen Praxis. Hier sind alle nötigen Informationen zu den einzelnen Projekten öffentlich zugänglich.) Sierras Bezahlung ist meist so gering, wie die Personen bereit sind zu akzeptieren. Warum, macht wohl keine Arbeit so deutlich wie PERSON SAYING A PHRASE. Sierra lässt auf einer Birminghamer Straße einen Mann, der vermutlich obdachlos, jedenfalls arm ist, einen Satz nachsprechen, den der Künstler ihm vor laufender Kamera selbst diktiert: „My participation in this piece could generate seventy-two thousand dollars profit, I am paid five pounds.“ Sierra spricht das Ausbeutungsverhältnis im Inneren seines Werkes selbst aus, bzw. lässt es aussprechen.

 

Die Differenz zwischen den beiden Summen ist eklatant, die Nötigung des Mannes, diese Wahrheit zu sagen, ist es auch. Am Ende der einminütigen Videoaufzeichnung scheint er entsprechend konsterniert, zuvor offenbar nicht wissend, welchen Satz er gegen fünf Pfund zu sagen haben würde. Sierras Aktion gleicht in ihrer Form den Kurzbefragungen und Überrumpelungen von Menschen auf der Straße, die ein fester Bestandteil zahlreicher Fernsehformate sind. Und sie ist ein performativer Akt der Ausbeutung, der nur möglich ist aufgrund einer kapitalistischen Wertschöpfungskette, in welcher sich der erzielte Endpreis eines Produktes – hier eines Kunstwerkes von Sierra – von der realen Investition in dieses Produkt vollständig entkoppeln lässt und eine gerechte Aufteilung des Erlöses zwischen den an der Produktion beteiligten Akteuren nicht vorgesehen ist. Sierra zeigt sich hier selbst in der Rolle des Ausbeutenden und kommentiert: "Was in der Welt der Kunst erlaubt ist, deckt sich natürlich mit dem, was in der Welt des Kapitalismus erlaubt ist. Wir teilen uns ein und dieselbe Wirklichkeit." Da Sierra jedoch den gleichen Satz ausspricht wie sein Gegenüber, lässt die Spiegelung der beiden Aussagen mindestens symbolisch offen, ob nicht auch Sierra für seine Teilnahme an der Arbeit nur fünf Pfund erhält, oder zumindest seinerseits in einem Ausbeutungsverhältnis steht.

 

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Wenn weite Teile des Werkes Santiago Sierras von zweifelhafter Moralität sind, so hat die Kritik daran diesen Umstand in der Vergangenheit meist unzureichend durchdacht, und hat insbesondere die für dieses Werk so entscheidende Bezugnahme auf Verfahren des Minimalismus verkürzt dargestellt. Sofern sich diese Kritik ablehnend äußerte, reichte sie vom Konstatieren einer nihilistischen Haltung, die nichts anderes weiß als die sozialen Grausamkeiten zu wiederholen, an denen sie selbst nichts ändern kann, bis zum Vorwurf des blanken Zynismus auf Seiten des Künstlers, aus dieser Grausamkeit zum Schaden anderer Profit zu schlagen. Es gilt aber, zunächst vier Dinge zu verstehen:


1.    Die Zahlung niedriger Löhne zum Ziele der Profitmaximierung, die soziale Deklassierung, Verdrängung und Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile und dergleichen mehr sind weitläufig standardisierte Alltagspraxen. Sierras Vorgehen unterscheidet sich von den gesellschaftlichen Prozessen, die es strukturell appropriiert, allein dadurch, das es sie komprimiert wiedergibt, und dies als Kunst.
 
2.    Wenn es als ein „Skandal“ angesehen wird, gewisse Realitäten ohne doppelten Boden und ohne jede moralische Kommentierung der Öffentlichkeit „als Kunst“ vorzusetzen, kann das nur bedeuten, dass deren Wiedergabe im Reich der Ästhetik und innerhalb kultureller Institutionen als illegitim angesehen wird, während sie ansonsten als Norm nicht nur hingenommen, sondern ja allgemein anerkannt und als gesellschaftlicher Standard praktiziert werden. Nur dass man solche Standards in der Regel nicht unmittelbar sieht, und zwar gerade deshalb, weil sie für viele weitgehend nur als abstrakte Anordnungen des Sozialen wahrnehmbar sind, nicht als greifbare Lebenswirklichkeit. Im Falle des Geldes handelt es sich zudem und eine Abstraktion per se.

3.    Santiago Sierras Praxis ist allem voran eine dokumentarische. Er registriert reale Vorgänge und hält sie in geeigneten Darstellungs- und Speichermedien fest. Er ist Kellner, nicht Koch. Dass etwa Menschen bereit sind, sich gegen geringe Bezahlung in erniedrigende Situationen zu begeben, belegt nicht Sierras Skrupellosigkeit, sondern dass diese Menschen offensichtlich bereit sind, sich für Geld erniedrigen zu lassen und dies nicht erst im Auftrag Sierras tun, sondern oftmals tagtäglich, was gewiss auf die gesellschaftlichen Umstände zurückzuführen ist, in denen sie leben, und nicht auf ihren Masochismus.


4.    Dass die Mitspieler in Sierras Projekten diese selbst als unfair, ausbeuterisch oder belastend empfinden, ist eine Unterstellung, die zumindest überprüft werden müsste. In der Zusammenarbeit mit Kriegsveteranen, die sich im Auftrag Sierras für mehrere Stunden und Tage schamhaft in die Ecke eines Kunstraumes stellten, erlebte ich es genau umgekehrt. Zitat: „Ich bin Sierra dankbar für diese Möglichkeit. Denn das ist ja mein Leben. Normalerweise interessiert sich nur niemand dafür. Das hier gibt mir die Gelegenheit, einmal aus dieser Unsichtbar herauszutreten.“ Und ein anderer sagte: „Das ist doch eine Wahrheit. Wir schämen uns doch. Ich finde es völlig richtig, dazu auch zu stehen, auch wenn das schwierig ist.“ Mit diesen Aussagen will ich nicht behaupten, es gäbe immer eine Identifikation der Akteure mit den ausgeführten Handlungen, und selbst dann wäre fraglich, wie weit sie mit dem Kontext vertraut sind, in dem sie diese vollziehen. Man unterschätzt aber ggf. das Bewusstsein der Akteure über ihre eigene Situation und auch ihre Solidarität mit Sierras Versuch, sie zu artikulieren.

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Richard Rorty geriet mit Habermas in eine lange währende Auseinandersetzung darüber, ob sich die Universalität der Menschenrechte auf eine letztlich essentialistische Weise würden rechtfertigen lassen, was Rorty in Habermas’ Rekurs auf eine „ideale Kommunikationssituation“ gegeben sah, die er für illusorisch hielt. Rorty hingegen bezog eine für viele schwer akzeptierbare Position, die später auch von Chantal Mouffe gestützt wurde: Die Menschenrechte lassen sich durch nichts rechtfertigen, sie sind nicht mehr und nicht weniger als eine Weise, wie Menschen ihren Umgang miteinander gemeinsam abstimmen, dabei die Auffassung teilen, dass Grausamkeiten jeder Art das Schlimmste sind, was Menschen Menschen antun können, und sich also dazu verabreden, sie zu vermeiden. Die ganze übrige politische und kulturelle Debatte über die Menschenrechte kann dann nur noch darum geführt werden, was wir für grausam halten und was nicht, wer „wir“ sind und wie sich dieses Wir auf Personenkreise ausweiten lässt, die die Sache heute anders sehen.

Rorty delegierte damit die moralische Übereinkunft zwischen Menschen, ihrem Zusammenleben eine bestimmte Form zu geben, radikal an diese Menschen selbst und weigerte sich, dafür Hilfestellung von irgendeiner anderen normativen Instanz zu verlangen, zum Beispiel der Vernunft. Den Glauben daran, Menschen trügen etwas tief in sich, dass sie von Natur aus zum guten und gerechten Handeln befähige, wies Rorty mit der – programmatisch anti-essentialistischen – Bemerkung zurück: „There is nothing deep inside us except what we have put there ourselves.“[4] Nicht in transzendentalen Rechten, sondern in der Literatur – und ich weite hier sein Argument auf alle Künste aus – sah er infolge das beste Instrument, um Menschen die Kämpfe und Leiden anderer nahezubringen und ihnen Grausamkeit so unerträglich zu machen, dass deren Vermeidung ihnen wirklich etwas bedeutet. Sich während der Rezeption eines Werkes in Perspektiven einzudenken, die gar nicht die eigenen sind, sich mit fremden Schicksalen zu solidarisieren, Empathie zu empfinden für Leute, die man vielleicht gar nicht versteht, erschien Rorty weitaus bedeutender für das humanistische Projekt als philosophische Begründungsversuche einer universalen Ethik. 

 

Diese Position deckt sich in meinen Augen vollständig mit der ethischen Haltung, die Santiago Sierras Werk einnimmt, und mit der Weise, wie diese Haltung ihre Form findet. Sierra verweigert es, irgendeine moralische Haltung zu den Ereignissen vorzugeben oder auch nur zu suggerieren, die er künstlerisch aufruft. Dabei macht er sich einen Kerngedanken des Minimalismus zu eigen, wonach die Bedeutung eines Werkes nicht in diesem selbst zu finden sei, sondern durch die Eigenleistung von Betrachtern in dieses hineingelegt werde. Sierra politisiert diese aktive Betrachterposition indes drastisch: Indem er seine eigene Praxis moralisch entleert, delegiert er die Einschätzung von deren Moralität an die Rezipienten. Das Publikum seiner Aktionen, Skulpturen, Filme und Fotografien sieht sich mit Grausamkeiten konfrontiert, die es in der Regel nicht selber erleiden muss, zumindest nicht gerade jetzt, und deren ethische Rechtfertigung es oftmals als hoch fragwürdig empfinden muss. Es gerät dabei fast zwangsläufig mit dem Werk in Konflikt, empfindet es vielleicht als feindselig und neigt dazu, spontan und leidenschaftlich Position für ihm sonst eher fern stehende Individuen zu beziehen oder bestimmte soziale und ökonomische Vorgänge abzulehnen, die ihm üblicherweise weniger aufstoßen. Was zunächst wie eine künstlerische Provokation erscheinen kann, zielt letztlich frontal auf die Konstruktion einer emanzipierten Betrachterposition und die Verhandlung dessen, was wir für moralisch vertretbar halten und was nicht.[5]

 

Sierras künstlerische Gesellschaftskritik vollzieht sich somit nicht als Darbietung einer kritischen und auch nicht einer zynischen Haltung des Künstlers oder seiner Kunst, sondern als Nötigung des Kunstpublikums, die Ausbeutung, Unterdrückung und Beschämung von Menschen, die Sierra in Museen, Galerien und auf Biennalen real initiiert, als einen Konflikt zu empfinden, der den Schein sozialer Harmonie zerbricht und jene Verhandlung unterschiedlicher ethischer Maßstäbe fordert, die heute immer weniger möglich scheint und doch den Kern des Politischen ausmacht. Dafür wählt Sierra gerade nicht den klassischen, üblichen Weg der Abstraktion als einen Weg vom Konkreten zum Allgemeinen, von einem gegebenen Menschen oder Material zu einer diesem übergeordneten Formel. Er nimmt statt dessen den umgekehrten Weg von real existierenden Abstraktionen inmitten der gesellschaftlichen Normalität und schließt sie kurz mit einem konkreten Körper und seinen Emotionen, mit einem realen Leben und seiner Zeit, mit einer spezifischen Herkunft und ihren Folgen.

 

Sierra betrachtet soziale Gewalt nicht als Abkehr von dem, was gesellschaftlich opportun ist, sondern als Ausdruck der von uns mitgetragenen normativen Herrschafts- und Wirtschaftsformen: Kapitalismus und Liberalismus. Er solidarisiert sich mit denen, die heute wahlweise als Effizienz- oder als Störfaktoren berechnet werden, und fordert die Anerkennung der Gefühle und der (verlorenen) Kämpfe der Menschen, die unsere eigenen wirtschaftlichen und politischen Ordnungen in eben jene beschämende Lage bringen, die Sierra uns als solche präsentiert. Jedoch verweigert er seinem Publikum die Absolution durch eine kritische Kunst, die repressive Verhältnisse aufklärerisch denunzieren, aber nicht ändern kann. Er unterbricht damit auch den Selbstbetrug der Kunstszene, die gerne glaubt, über einen Ort zu verfügen, der über diese Verhältnisse erhaben sei.

 

Sofern Sierras Kunst grausam ist, ist sie es, weil Abstraktionen grausam sind, sobald sie Subjekte erfassen und kontrollieren oder gleich negieren. Und da der Kunst jede Macht fehlt, Praxen sozialer Grausamkeit zu unterbinden, bleibt ihr nach Sierra doch, ihren eigenen ästhetischen Formalismus mit der sanktionierten Barbarei gemein zu machen und Dritten eine Chance zu geben, sich davon zu distanzieren.

Alexander Koch, Juni 2013



[1] Vergl. Richard Rorty, Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge University Press, Cambridge 1989, S. 3 ff.

[2]
Edward Grippe, „Richard Rorty (1931–2007)“, Internet Encyclopedia of Philosophy (http://www.iep.utm.edu/rorty/).


[3]
Zitiert nach Gabriele Mackert und Gerald Matt, „Santiago Sierra“. Kunsthalle Wien project space, Wien: Kunsthalle Wien, 2002.


[4]
Richard Rorty, “Consequences of Pragmatism”, University of Minnesota Press, Minneapolis 1982.


[5]
Claire Bishop hat Sierra (wie auch Thomas Hirschhorn) daher als Schlüsselfigur eines politisch, ja im eigentlichen Sinne demokratisch gewendeten Begriffs relationaler Ästhetik diskutiert. In unmissverständlicher Abgrenzung von Nicolas Bourriauds weichgespülter Vorstellung von sozialer Interaktion stellte Bishop mit Blick auf Mouffe und Laclau klar, dass nicht Konsens und Harmonie die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaftsordnung bilden, sondern die Auffassung, dass viele unserer Ansichten unvereinbar sind und diese Unvereinbarkeit gleichwohl legitim ist. Sierra, so Bishop, mache relationale Antagonismen sichtbar, die der Schein sozialer Harmonie unterdrücke, und schaffe damit eine konkrete Ausgangsbasis dafür, unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst neu zu überdenken. Vgl. Claire Bishop, „Antagonism and Relational Aesthetics“, October 110 (Herbst 2004), S. 51–79.

Santiago Sierra, Installationsansicht, Kunstverein Arnsberg, 2013