Angelika Markul
IF THE HOURS WERE ALREADY COUNTED
18. September – 28. November 2021

Angelika Markul, Tierra del Fuego, 2016–2020, Detail der Werkserie aus Zeichnungen, Skulpturen, Neoninstallation und Gemälde, Installationsansicht, Kunstverein Arnsberg, 2021, Foto: Jakob Studnar

Mit If The Hours Were Already Counted zeigt der Kunstverein Arnsberg die erste institutionelle Einzelschau von Angelika Markul (*1977, Stettin) in Deutschland. Im Zentrum der Ausstellung stehen Arbeiten, die Erzählungen über den Ursprung des Lebens oder vergangene Kulturen entwerfen und indes von einem unweigerlich kommenden Ende zeugen. 

In gelbes, rotes und blaues Licht getaucht, führen Zeichnung, Skulpturen und Gemälde der Werkserie Tierra del Fuego (2018/2021) in die Ausstellung ein. Benannt nach der südamerikanischen Inselgruppe Feuerland (Tierra Del Fuego) greifen die Arbeiten das Verschwinden patagonischer Gletscher und Jahrtausende alter Kulturen auf, die dieses Land einst prägten und bewohnten, bevor sie von europäischen Siedlern und dem Klimawandel verdrängt wurden. Die Völker der Selk’nam, Jamana oder Kawwsquar verschwanden innerhalb kürzester Zeit in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts. Allein den Eismassen können wir noch heute beim Schmelzen zusehen. Die Arbeiten dieser Werkserie zeichnen eine spekulative Geschichte des Verschwindens und des Untergangs nach und führen damit ein Narrativ fort, das die Künstlerin mit ihrer Videoarbeit Memory of Glaciers (2017) eröffnet hat. 

Memory of Glaciers spürt dem Ursprung allen Lebens auf der Erde nach. Aufnahmen des Kometen Tschurjumow-Gerassimenko leiten die Erzählung ein. Das schwarzweiße Filmmaterial, das eher an die Spezialeffekte früher Science-Fiction, als an den wissenschaftlichen Hintergrund der Bilder erinnert, wurde erst im letzten Jahrzehnt im Rahmen der Rossetta-Mission (2004–2016) aufgenommen. Markul setzt die im Weltraum entstandenen Bilder in direkte Linie mit Aufnahmen der Gletscher Patagoniens und schreibt damit eine kurze, poetische Evolutionsgeschichte. Wasser wird hier als Quelle des Lebens zum zentralen Motiv, aus dem beide geologischen Körper – Komet und Gletscher – beschaffen sind. Als Protagonisten, als weise und dunkel raunende Orakel geben sie Einblicke in die Zeit vor mehreren tausend oder gar Milliarden Jahren. Beide können sie Leben und Tod bringen. Und so lässt sich Memory of Glaciers mit der Musik von Côme Aguiar schließlich als visuelle und akustische Symphonie von den Kräften der Natur, vom Werden und Vergehen verstehen.

Auch If The Hours Were Already Counted(2016) nimmt einen außerweltlich wirkenden Ort zum Ausgangspunkt: Menschen schreiten in Schutzanzügen durch eine kristallene Traumlandschaft. Wieder basiert die Arbeit auf Bildmaterial, das im Rahmen einer wissenschaftlichen Expedition entstanden ist: Im Jahr 2000 entdeckten Bergarbeiter in der mexikanischen Naica-Mine etwa 300 Meter unter Tage eine Höhle mit riesigen, bis zu elf Meter großen Kristallen. Sie wurde für ForscherInnen zugänglich gemacht, um nach Spuren und primitiven Lebewesen zu suchen, die Aufschluss über die Entstehung des Lebens auf der Erde geben könnten. Die Aufnahmen, die in Form von Markuls Arbeit zum ersten Mal veröffentlicht wurden, zeugen von der unmittelbaren Erfahrung des Sublimen. Das Staunen und die Erschütterung steht den WissenschaftlerInnen ins Gesicht geschrieben, ebenso wie die körperliche Erschöpfung: Mit Temperaturen zwischen 45°–50° C und bis zu 100-prozentiger Luftfeuchtigkeit herrschen in der Höhle bedrohliche Bedingungen. Kühlende Schutzanzüge und Kühlkammern sind lebensnotwendig und lassen die ForscherInnen wie Pioniere auf einem anderen Planeten anmuten. Markul hat das Filmmaterial bewusst in die Tradition der frühen Wissenschaftsfiktionen des 19. Jahrhunderts gestellt. Angelehnt an die berühmten Radierungen von Édouard Riou für Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Welt (1864) hält die Künstlerin auch diese Arbeit in Schwarzweiß. In einem Interview beschreibt sie ihre Faszination für die fließende Grenze von Fiktion und Realität, die sich hier abzeichnet: „What amuses me is that what appears to be fantasy in one era becomes reality and commonplace in another, a delusional speculation.“ (ARTMargins Online, 2017)

Markuls Arbeiten bewegen sich stets zwischen den scheinbar gegenläufigen Polen Wissenschaft und Fiktion: Als Science-Fictions verinnerlichen sie Erkenntnisse aus Ökologie, Geologie, Archäologie oder Astronomie – also aus Disziplinen, die sich auf die Erforschung von Vergangenheit und Zukunft konzentrieren. Immer wieder ergänzt die Künstlerin diesen Kontext um mystische und spirituelle Elemente. Ihre Arbeit kann schließlich als Hommage an die mitunter dunklen Geheimnisse dieser Erde verstanden werden. Angelika Markul lebt und arbeitet in Paris und Warschau. Ihre Arbeiten wurden weltweit in renommierten Ausstellungshäusern wie dem Palais de Tokyo (Paris), dem Musée CSW Zamek Ujazdowski (Warschau), dem Jewish Museum (New York) oder dem National Art Museum of China (Peking) ausgestellt.

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, der Stadt Arnsberg, des Hochsauerlandkreises, des Bureau des arts plastiques des Institut français Deutschland und des französischen Ministeriums für Kultur, der Sparkasse Arnsberg-Sundern und Veltins. In Kooperation mit der LETO Galerie, Warschau und dem Polnischen Institut Düsseldorf.

Text & Kuration: Lydia Korndörfer

Installationsansicht, Angelika Markul. If The Hours Were Already Counted, Kunstverein Arnsberg, 2021, Foto: Jakob Studnar
Installationsansicht, Angelika Markul. If The Hours Were Already Counted, Kunstverein Arnsberg, 2021, Foto: Jakob Studnar